Blog November 2017

NOVEMBER 2017
WÖLFE IN DEUTSCHLAND

Kürzlich fuhr ich im Speisewagen eines D-Zuges von Berlin nach Dresden. Der Zug fuhr eigentlich weiter nach Prag, aber ich stieg in Dresden aus, um Freunde zu besuchen in der Nähe des Großen Gartens. Ich fahre gern im Speisewagen, weil ich da immer mit interessanten Menschen ins Gespräch komme. Das ergibt sich fast zwangsläufig. Irgendwie wollen dort alle miteinander reden. Meinen ersten Job habe ich übrigens in einem Speisewagen bekommen. Im Zug von Dresden nach Halle.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Eine Frau setzt sich mir gegenüber und beginnt in einem Buch zu lesen, das den Titel FOREST trägt. Es sieht nicht so aus, als ob ich heute zu einer Unterhaltung komme mit diesem Gegenüber. Sie liest sich fest. Plötzlich bekommt die Frau doch Lust auf einen Kaffee und wird mitteilsam. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wölfe Kuscheltiere sind.“ „Wie meinen?“ „Nun ja, hier in dem Buch wird ein Wolf gezähmt, aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Die Dame lächelt mich an. „Nun, so was soll vorkommen“, werfe ich lapidar ein. Aber meiner Stimme merkt man an, dass ich mir nicht ganz sicher bin. Jetzt mischt sich ein Herr von schräg gegenüber ein: „Neuerdings werden hier wieder Wölfe angesiedelt.“ Etwas perplex gucken wir ihn an. „Die Dame redet von einem Roman“, kläre ich ihn auf. „Roman hin oder her, bald werden unsere Wälder wieder von Wölfen bevölkert sein“, ist er sich ganz sicher. „Nun, das ist doch lustig!“ ruft die Dame völlig zusammenhanglos und klatscht die Hände zusammen. So heftig, dass ihr die schwarz umrandete Brille aus dem Gesicht fällt. Zum Glück ist sie nicht zerbrochen. Ich hebe sie vom Fußboden auf und reiche sie ihr. Die Frau putzt ihre Brille, dankt mir kurz und wendet sich wieder dem Buch zu. Jetzt möchte sich der Herr von Gegenüber doch nicht so einfach aus dem Gespräch drängeln lassen und schiebt uns einen Zeitungsartikel herüber. „Schauen Sie doch mal, das passt zum Thema.“ Die Frau schaut nur kurz auf und wendet sich wieder dem Roman zu. Ich lese die Titelzeile: Eine Engländerin bei lebendigem Leibe von Wölfen gefressen. Was, das ist doch unmöglich, denke ich. Wölfe sind friedliche Tiere und der Mensch gehört doch nicht in ihr Beutespektrum. So habe ich es jedenfalls immer gehört. Jetzt sieht auch die romanlesende Frau diese Zeile und wirft erschrocken die Hände vor das Gesicht, ohne ihre Brille zu verrücken. Der Herr liest uns den ganzen Artikel vor und wir erstarren vor Entsetzen. „Das war ja aber nicht hier, sondern in Griechenland“, meint die Frau schließlich und klappt den Roman zu, nicht ohne vorher ein Lesezeichen hineingelegt zu haben. „Kurz vor ihrem Tod hat sie noch ihre Verwandten in England angerufen, die die griechischen Behörden verständigt haben. Aber es war leider zu spät.“ „Man muss sich das mal vorstellen, von einem Rudel Wölfe umgeben, die gleich angreifen werden. Gruselig.“ „Aber Griechenland ist nicht Deutschland“, meint die Frau selbstberuhigend. „Hier werden Wölfe gezielt angesiedelt, sie vermehren sich sehr stark, ein Rudel nach dem anderen entsteht und sie haben keine Scheu vor dem Menschen, weil sie nicht gejagt werden dürfen“, erklärt der Mann. „Was, sie dürfen nicht gejagt werden? In Deutschland gibt es doch Jäger.“ „Ja, aber die Wölfe stehen unter Naturschutz, sie dürfen nicht gejagt werden.“ „Denkt doch daran, dass der Wolf der Vater des treuesten Begleiter des Menschen ist, des Hundes“, gebe ich zu bedenken. „Natürlich kann man ihn zähmen, unsere Vorfahren haben es ja auch getan.“ Plötzlich müssen wir lachen. „Im Großen Garten von Dresden sind jedenfalls noch keine Wölfe“, scherze ich. „Noch nicht“, meint der Mann kryptisch. Plötzlich fallen mir lauter Sagen und Geschichten um den Wolf ein. Romulus und Remus, die Gründer Roms wurden von einer Wölfin gesäugt. Rotkäppchen und die Sieben Geißlein dagegen von einem Wolf gefressen, auch wenn der Jäger alle retten konnte am Ende. „Der Wolf jagt und tötet nicht nur um zu überleben, sondern auch aus Lust am Zerreißen seiner Opfer“, erklärt der Mann und wir Frauen schauen ihn mit großen Augen an. „Anders ist es nicht zu erklären, dass Rudel ganze Schafsherden regelrecht abschlachten, ohne auch nur einen kleinen Teil der Tiere zu fressen.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, meint die Frau mit dem Buch. „Trotzdem ist es wahr. Außerdem fallen die Wölfe in Brandenburg und Sachsen lieber Schafe an, als dass sie sich die Mühe machen, das Wild im Wald zu jagen. Wenn der Mensch keine Bedrohung mehr für den Wolf darstellt, wird er nicht davor zurückschrecken, auch ihn auf seinen Speiseplan zu setzen.“ „Na aber, dann kann man doch den Wolf nicht wieder ansiedeln in Europa!“ entsetzt sich die Frau. „Er gehört zur Natur“, mische ich mich ein. „Die Natur ist nun mal gefährlich.“ Ich bestelle mir einen Kaffee und versuche, das Thema zu wechseln: „Zeigen Sie doch mal her das Buch. FOREST. Noch nie davon gehört.“ „Gerade erst herausgekommen, ganz frisch“, lächelt die Frau. Und ich beschließe, mir das Buch zu kaufen, möchte doch zu gern wissen, was mit dem gezähmten Wolf los ist. Es wird langsam Nacht und wir hören doch tatsächlich Wolfsgeheul. „Was ist hier los“, ängstigt sich die Frau. „Fährt der Zug durch ein Wolfsrudel?“ Der Mann von Gegenüber lacht laut auf und schiebt uns seinen Laptop zu – er schaut gerade den Film WOLFSBLUT nach einem Roman von Jack London.