LA RAYA

Der Rochen – La Raya

Das Meer ist türkisblau und ich so weiß wie der Sand davor. Schon spüre ich die Mittagssonne gnadenlos auf meine Schultern brennen und will vorübergehend nach Schatten suchen – buscar una sombra – da höre ich eine Stimme hinter mir sagen: „Hier gibt es Rochen.“
Erschrocken drehe ich mich um, weil ich so dicht in meiner Nähe niemanden vermutet hatte und halte in meiner Bewegung inne. `Rochen, na ja, na und?`denke ich, indem ich das männliche Wesen mustere, das da – nun vor mir – im Strand liegt wie ein Häufchen Unglück, voll Angst. Laut sage ich: „Ist der Rochen ein Fisch?“ Es soll höflich klingen, auch hatte ich mich noch nicht genau mit dieser Spezies beschäftigt.
„Stingray,“ sagt der Mann kläglich,“ eine Art Stechfisch, ja, er lauert im Sand und wenn jemand drauftritt, sticht er zu.“
Belustigt schaue ich mir den Mann näher an, ein korpulenter älterer Herr mit beginnender Glatze, der da im Sand mehr hockt als liegt, wie …. ja wie …. ich muss lachen … wie eine Art Rochen.
„So lustig ist das nicht,“ meint er,“ erst gestern wurde eine Frau in den Fuß gestochen. Sie wollte mit dem Rochen spielen.“
Belustigt fordere ich ihn auf, mir diese Geschichte näher zu erzählen, was er bereitwillig tut, worauf ich zu dem Schluss komme, dass für mich keine Gefahr besteht, denn ich fühle kein Bedürfnis mit einem Fisch zu spielen und die Dinger sind so groß, dass man schwerlich aus Versehen drauftreten kann.
„Danke für die Warnung,“ lache ich und gehe, meine brennenden Schultern nicht weiter beachtend, zunächst schwimmen.
Ich bin zum ersten Mal am Atlantik und erstaunt darüber, wie ruhig das Wasser da liegt und wie herrlich ich darin schwimmen kann. Glasklar, wohltemperiert, wundervoll nach Meer duftend. Keine Wellen. Wie ein Spiegel. Es sei denn, ein Rochen verdirbt einem den Spaß. Ich spüre das Wasser meinen Körper umstreicheln – schwimmen ist doch die herrlichste Art der Fortbewegung! Nur leider nicht permanent zu haben, es sei denn man mutiert zu einem Fisch. Transformase por la noche en un pescado. Bei diesem Gedanken kommt mir wieder der Rochen in den Sinn. Ich muss ihn im Hotel mal googeln.
Endlich Urlaub. Endlich allein. Gerade einer Beziehung entwischt. Zum Lachen oder zum Weinen. Auf jeden Fall relaxen. Ausspannen. Fuerteventura. Das starke, gewaltige Glück. Keine Ahnung, warum manche meinen, es hieße `starker Wind`. Vielleicht weil sie Angst vor dem Wort Glück haben. Aber `la ventura`ist nun mal `das Glück`und nicht der Wind – èl viento`. Die Inseln der Glückseligen wurden die Kanaren in der Antike genannt.
Das Glück kann meinetwegen kommen.
Beim Abendbufett mustert mich der Rochenmann von weitem und ich verwickele einige neben mir sitzenden Gäste in Gespräche über Rochen. Es kommen abenteuerliche Dinge zu Tage – u.a. dass wirklich zwei riesige Rochen im Hafen hinter der Klippe herumlungern und manchmal sogar die Gewässer vor unserem Strand aufsuchen.
In der Nacht träume ich komischerweise nicht von Rochen, sondern von Giraffen, Löwen, Wüstensand, Affen und Beduinen. Vielleicht in anderer Reihenfolge. Möglicherweise auch durcheinander. Ich kann Träume nie so genau erinnern. Fuerteventura liegt ca. 150 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt. Genau gegenüber der Sahara.
Der nächste Morgen eröffnet sich als Seidentag, wie meine Oma immer Tage nannte, in denen der Himmel strahlendes Blau trug. Ich kleide mich komplementär orangefarben und genieße den erfrischenden Nordostwind auf der Terrasse. 28 Grad im Schatten und eine leichte abkühlende Brise – einfach zum Seele baumeln lassen.
Als Kontrast zur Idylle google ich Rochen. Aha, vor einigen Jahren wurde ein berühmter Tierfotograf von einem Rochen mitten ins Herz gestochen. Du meine Güte. Der Mann starb kurz darauf. Andere Fälle kommen etwas unspektakulärer daher, aber alle weisen darauf hin, dass der Rochen einen ziemlich langen Giftstachel trägt. Kann er jetzt den Stachel wie ein Geschoss abschießen oder piekst er bloß? Das kann ich beim besten Willen nicht herausbekommen. Die Meinungen dazu sind zu widersprüchlich. Jedenfalls ist das Gift für den Menschen nicht zwingend tödlich, aber der Stich kann sehr schmerzhaft sein. Leider sollen die Biester auch wirklich manchmal in Strandnähe herumlungern und sich halb im Sand verbuddeln. Auf wen warten die denn da eigentlich? Ich beschließe, keine Rochenphobie zu entwickeln und gehe schwimmen.
Allerdings ertappe ich mich dabei, wie ich jetzt argwöhnisch nach unten auf den Meeresgrund – den man wegen des klaren Wassers gut sehen kann – blicke, um nach lauernden Rochen Ausschau zu halten. Selbst wenn die sich etwas im Sand verbuddeln sollten, kann ich mir nicht vorstellen, dass man die Viecher übersehen sollte. Immerhin werden sie manchmal bis zu vier Meter lang. Außerdem glotzen doch sicherlich ihre abstehenden Glubschaugen etwas aus dem Sand heraus. Nix zu sehen. Also Entwarnung.
Die Wellen des Atlantik – auch wenn er heute sehr still daliegt, wellt sich das Wasser natürlich leicht – schubsen mich sanft an. Sie sind länger und mehr durcheinander als an Ostsee, Nordsee oder Mittelmeer, meine bisherigen Urlaubsdomänen. Sie kommen von rechts, sie kommen von links, sie wirbeln durcheinander.
Die Natur freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.
Ich folge den Wellen zutraulich. Aber heute sind sie ja auch nicht hoch.
Wenn man sich etwas ganz doll wünscht, sagt man, geht es in Erfüllung. Ich wünsche einen Rochen zu sehen, geht es mir plötzlich durch den Sinn. Das habe ich nicht gewollt, das passierte so intuitiv. Ich bereue meine Voreiligkeit, brauche ich doch keine Abenteuer, sondern Ruhe und Entspannung. Warum nur ist der Mensch so kribbelig nach Aufregung?
Etwas massiges, dickes bewegt sich unter Wasser auf mich zu. Mein Herz stockt. Ist das etwa ein Rochen? Wieso gehen Wünsche in Erfüllung, das gibt es nur im Märchen. Hier ist Realität am Atlantik. Ich bekomme Panik. Soll ich jetzt stehenbleiben oder abhauen? Was gibt mehr Sicherheit vor Giftstacheln? Im Internet gab es keine Anleitung, wie man sich einem Rochen gegenüber verhält. Ist der auf der Jagd, oder piekst er nur, wenn er sich angegriffen fühlt? Jetzt taucht der doch tatsächlich vor mir auf. Es ist – kein Rochen, sondern der dicke Mann.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken,“ meint er lapidar.
Wir beide sitzen im Sand und er fummelt sich aus seinem Rochenkostüm heraus, welches er irgendwann mal bei Greenpeace ersteigert hatte. Mir sitzt die Angst noch in den Knochen und ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll.
„Ich brauche Aufmerksamkeit, es ist wie eine Droge,“ grinst er.
Habe ich es jetzt mit einem Verrückten zu tun? Ich muss versuchen, den abzuschütteln und mich unauffällig ins Hotel schleichen. Wie konnte ich mich auch nur auf ein Gespräch mit einem Wildfremden einlassen.
„Nein, nein, ich bin nicht verrückt, sondern – verliebt,“ als hätte er meine Gedanken erraten, versucht er ein Lächeln, aber es fällt etwas jämmerlich aus.
„Eine komische Art, Verliebtheit zu zeigen. Sie haben mich zu Tode erschreckt! Dazu gehört kein Mut, das ist hinterhältig.“
„Ein famoser Spaß – das mit dem Rochen,“ versucht er sich zu entschuldigen.
Etwas aufwändig, ja zugegeben, aber Spaß – jedenfalls für mich nicht.
„Ich dachte, Sie wären allein und brauchen etwas Gesellschaft,“ meinte er augenzwinkernd, seinen dicken Bauch herausfordernd vor sich herstreckend.
Ich mache ihm klar, dass es nicht seine Gesellschaft ist, die ich zwingend brauche und platziere mich im Sand, ganz in der Nähe. Keinesfalls gehe ich jetzt ins Hotel zurück und lasse mich verscheuchen. So weit kommt es noch. Manchmal schiele ich zu ihm hinüber, wie er da so sitzt und in einem Buch liest. Ein bisschen tut er mir leid, aber er ist nicht die Art Mann, in den ich mich verlieben könnte – mit oder ohne Rochenkostüm.
Es ist mein Sommer.

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