EL CAMARERO

DER KELLNER – EL CAMARERO

Als ich endlich aus Berlin im Hotel in Jandia ankomme, fühle ich mich in einer anderen Welt. Es ist sehr warm – ich liebe Wärme. Und sehr steinig – ich mag Steine. So weit so gut erstmal. Es ist ganz schön weit weg von zu Hause. Das Abendbufett ist zum Glück noch offen, ich habe Hunger. Eine Riesenauswahl an schmackhaften Speisen erwartet mich.
Ein Kellner wuselt um mich herum und verblüfft mich mit seinem perfekten Englisch. Ob Kellner mit den Gästen flirten sollen, damit die sich wohler fühlen? Meiner – wieso meiner, er bedient eine Menge Leute – zwinkert mir permanent zu und verwickelt mich in kurze – denn er hat viel zu tun – Gespräche, und es stellt sich heraus, dass er nach Berlin auswandern will – es sind seine letzten Wochen auf Fuerteventura. Welch ein Zufall! Ich erzähle ihm, wie man vom Flughafen Tegel am schnellsten in die Innenstadt kommt. Seine braunen Augen versprühen Lebensfreude, seine schlanke hochgewachsene Gestalt ist gut durchtrainiert. Er freut sich, dass ich sein Englisch lobe und frage ihn nach spanischen Vokabeln. Ärgerlicherweise tendieren meine Spanischkenntnisse gegen Null. Das zu ändern wird eine Weile dauern.
Später lese ich im Internet, dass sich auf einer der Kanarischen Inseln ein englischer Spion versteckt, der sich als Kellner tarnt. Ich habe schon immer eine ausgeprägte Phantasie und natürlich kommt mir sofort ein Verdacht …
Mein Kellner redet am nächsten Tag plötzlich nur noch spanisch und ein einfaches Deutsch, das kommt mir spanisch vor. Vielleicht macht er das aber auch nur deshalb, weil ich gesagt habe, dass ich Spanisch lernen will.
Normalerweise ist das Klima hier wunderbar, 28 Grad im Schatten und ein leichter Nordwind. Aber heute wache ich auf wie in einer Sauna. Wasche gleich mein durchgeschwitztes Nachthemd. 38 Grad und kaum Wind. Mein Kellner erzählt beim Frühstück, dass das der Calima wäre, ein Wüstenwind aus der Sahara. Natürlich habe ich darüber gelesen, der Calima kommt als Sandsturm daher und man kann die Hand vor Augen nicht sehen, weil der Sand durch die Luft wirbelt. Aber der Sand liegt heute ganz normal am Strand herum wie immer, es ist bloß einfach so heiß. Mein Verdacht schleicht sich wieder hoch. Der Kellner weiß gar nicht Bescheid hier und redet auch wieder sein perfektes Englisch.
Eine dunkelhaarige Dame aus Bayern sitzt mit mir am Frühstückstisch. Wir plaudern. Offensichtlich bin ich eine Art Exotin für sie, weil ich aus Berlin komme. Alle wollen nach Berlin. Alle finden Berlin cool. Ich komme auch immer wieder zurück in diese Stadt. Normalerweise erlebe ich ständig, wie Leute sozusagen wie Autisten reagieren, sie reden ständig über sich und warten beim Gespräch nur auf den Moment, wo der andere schweigt, damit sie wieder loslegen können mit ihren Selbstgesprächen. Nicht so die Dame aus Bayern. Sie ist kultiviert und kann wirklich zuhören. Das ist angenehm. Ich erzähle von meiner Absicht, einmal das sagenumwobene Cofete hinterm Berg aufzusuchen.
„Wie lange sind Sie schon auf Fuerte?“
„Gestern angekommen.“
„Was – und da wissen Sie schon so viel über Cofete?“
„Na ja, ich habe darüber gelesen.“
„Die meisten Leute wissen auch nach drei Wochen Urlaub nicht, wie es 100 Meter entfernt vom Hotel aussieht.“
Wir lachen über die ignoranten Urlauber und die Dame erzählt mir, dass ihr Vater sie gezwungen hat, Business zu studieren, sie durfte nicht mal Lehrerin werden, ganz zu schweigen von Kunst oder so. Wir beschließen, zusammen an einem Spanischkurs für Anfänger im Hotel teilzunehmen.
Ich beobachte meinen Kellner und schäme mich gleichzeitig dafür. Wieso Spion? Was will überhaupt ein englischer Spion – oder überhaupt ein Spion – auf einer kanarischen Insel ausspionieren? Steine, Sand, Kakteen? Aber vielleicht versteckt er sich ja hier. Vor wem denn? Na, vor denen, die ihn enttarnen wollen.
Ich nehme mir noch etwas vom leckeren Abendbufett. Hundert pro – hier nehme ich zu. Aber ich kann nicht widerstehen. Wups. Kaum bin ich wieder an meinem Platz, ist mein Teller weg. Da waren doch noch Kapern drauf, die ich verspeisen wollte. Klar, ich kann mir neue Kapern holen, aber dann muss ich ja wieder loslaufen. Und inzwischen räumt einer der beflissenen Kellner meinen Teller mit den anderen Leckereien weg. Ich gucke in mein kleines spanisches Wörterbuch – volver heisst zurückkommen oder wiederkommen. Yo volveré zwinkere ich meinem Kellner, nennen wir ihn Pedro, zu und er zwinkert zurück. Ob der jetzt etwa denkt? Klar, denkt er.
„Bella“ meint er im Vorübergehen mit einem überladenen Tablett voller Getränke. Ich staune immer wieder, wieviel so ein Kellner auf einem Arm transportieren kann. Der muss doch in dem Arm einen Krampf kriegen.
„Darf ich mich zu Ihnen platzieren?“ meint die nette bayrische Dame mit den langen schwarzen Haaren.
„Gern“, meine ich und ich meine es auch wirklich.
Der Kellner witscht vorbei und seine eh schon dunklen Augen verdunkeln sich noch mehr. Er plappert ziemlich schnell etwas auf Englisch daher. Hat er sich jetzt verraten, ist das doch seine Muttersprache? Und wenn schon, deswegen muss er ja noch lange kein Spion sein.
„Ich bin das erste Mal auf Fuerteventura und ich weiß schon, dass ich wiederkommen werden. Yo volveré,“ lächele ich geheimnisvoll.
„Man sagt, entweder jemand kommt einmal und nie wieder oder immer wieder auf diese Insel,“ sagt mein Gegenüber mit bedeutungsschwangerem Blick.
Das ist offensichtlich der wichtigste Fuerteventurasatz. Ich habe ihn schon oft gehört, obwohl ich noch nicht lange hier bin.
„Warum wollen Sie eigentlich diese Insel verlassen?“ frage ich meinen Kellner.
Er lächelt mysteriös. „May be I`ll always come back too.”
“Ach ja, will der Kellner hier weg?” fragt meine neue Bekannte.
Ich gehe nicht weiter darauf ein, denn ich weiß nicht, ob der geheimnisvolle Kellner mir ein Geheimnis anvertraut hat.
Die Dame, Silvia, und ich plaudern noch eine Weile über Filme, die wir gesehen haben – beide lieben wir THE GREAT GATSBY von Baz Luhrmann – da steckt mir der Kellner in einem unbeobachteten Moment einen Zettel zu. Hat Silvia das wirklich nicht gesehen oder tut sie nur so?
Später lese ich: `Um Mitternacht an der Kirche. At midnight by the church.` Was soll ich davon halten? Meine Neugier ist geweckt, ob sie über meine natürliche Zurückhaltung siegen wird? Ich beschließe Blickkontakt mit dem Kellner aufzunehmen, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt. Nun, bis Mitternacht ist es noch eine Weile hin, entweder er ist verliebt in mich oder er will mir eine bedeutende Nachricht zukommen lassen, die mit seiner Spionagetätigkeit – falls es denn eine gibt – zu tun hat. Soll ich jemand vom Hotel informieren? Quatsch. Ich muss ja da nicht hingehen. Aber wahrscheinlich bin ich einfach zu neugierig, um das Rendezvous platzen zu lassen. Ob ich Silvia einweihe? Dann kann sie wenigstens über mein Kidnapping – sollte es eines geben – berichten und die Polizei informieren. Eigentlich bin ich hierher gefahren, um mich zu erholen. Warum nur kann ich diesen Zettel nicht einfach vergessen?
Ein frischer Wind weht auf meinem wunderbar großen Balkon. Die Mauern zwischen den Balkonen sind so hoch, dass man im Liegen nicht gesehen wird von neugierigen Nachbarn. Luxus pur. Wundervoll. Von früh bis in den späten Abend ist ein Sommerkleid genug Bekleidung – nie muss man eine Jacke im Gepäck mitschleppen. Das verleiht dem Dasein etwas Beschwingtes. Die Palmenblätter knistern im leichten Wind, Stimmen der Menschen kommen von weit her, die Luft ist sanft. Bald geht die Sonne unter und die Sterne blinken hervor, werden sichtbar, weil die Sonne nicht mehr alles überstrahlt. Gleich werden sie alle in ihrer ganzen Schönheit aufblitzen. Am Himmel über Deutschland leuchten die Sterne nie so hell. Jetzt strahlen mehr und mehr von den Himmelskörpern auf. Es ist imposant. Leider kann ich sie nicht identifizieren, ich kenne mich nicht so aus in der Astrologie. Langsam wandern sie alle nach rechts. Die Luft umschmeichelt mich immer noch warm. Die Kirchturmuhr schlägt elf Mal. Was soll ich nur machen? Ich mache mich auf die Socken, bzw. ohne Socken in die Schuhe.
Es bleibt hier die ganze Nacht warm. Man schläft unter einer Art Laken. Trotzdem kommt man manchmal ins Schwitzen.
Ich schlendere los, lasse die Tür zum Strand ins Schloss fallen und begebe mich sozusagen ins Niemandsland. Der Skorpion funkelt weiter über mir. Die Kirche wird von Scheinwerfern angestrahlt und ist nicht zu verfehlen. Sie steht auf einem kleinen Hügel und überragt alle anderen Gebäude. Ich gehe den Jandia Boulevard entlang, die Kirche immer im Blick. Ein Restaurant liegt am anderen. Fröhliche Menschen feiern unbeschwert. Spanische Gitarrenmusik, ein leichter Wind, die Sterne. Ich könnte mich jetzt hier irgendwo hinsetzen und den Kellner mit seinem Zettel vergessen. Andererseits, was soll schon passieren? Una aventura – ein Abenteuer. Ich gehe zum Atlantik, es ist Flut, das Wasser kommt bis fast an die Boulevardmauer, sanft umspült es meine nackten Füße. Ich halte die Sandalen in der Hand. Von hier unten kann ich die Kirche auch ganz gut erkennen. Nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Entschlossen laufe ich dann doch die Stufen zur Kirche hoch, es sind mehr als siebzig. Da oben – nichts. Ich laufe einmal um die Kirche herum. Immer noch nichts. Also wurde ich veralbert, aber warum? Irgendwie enttäuscht mache ich mich an den Abstieg, da höre ich einen Seufzer ganz dicht neben mir. Ich zucke zurück, eine Gestalt löst sich von einer Palme und kommt auf mich zu – es ist Pedro, der Kellner.
„Schön, dass du gekommen bist.“
„Nun ja, ich wollte sowieso einen Abendspaziergang machen.“
„Um Mitternacht?“ lächelt er.
Wir setzen uns auf die Treppenstufen, die immer noch warm von den Sonnenstrahlen sind.
„Ich bin verliebt in dich.“
Er versucht, meine Hand zu nehmen aber ich überlasse sie ihm nicht. Eine banale Liebesstory also, kein Abenteuer.
„Außerdem möchte ich dir ein Geheimnis anvertrauen – dort im Hotel haben die Wände Ohren.“
Schon besser, es wird interessant. Plötzlich muss ich lachen, weil ich mir vorstelle, wie die Wände lauter Ohren ausstülpen.
„Nein, nein, wirklich.“
„Bist du der englische Spion?“
Sein Gesicht wird zum Fragezeichen, dann begreift er, was ich meinen könnte.
„Ach, die Story aus dem Internet? Ich glaube, sie ist frei erfunden.“
„Aber du sprichst doch perfekt Englisch.“
„Jeder, der Englisch spricht, ist doch kein Spion.“
„Jeder nicht,“ meine ich.
Er druckst herum.
„Was ist denn nun mit dem Geheimnis?“ werde ich ungeduldig.
„Bist du auch verliebt in mich?“ fragt er.
„Nein,“ sage ich wahrheitsgemäß.
„Dann werde ich das Geheimnis nicht verraten.“
„Wieso denn nicht?“
„Es wäre zu riskant.“
Ich verstehe gar nichts mehr und erhebe mich um zu gehen.
„Nein, nein, bleib bitte hier, warum bist du nur nicht in mich verliebt?“
Er sieht ganz verzweifelt aus, ich halte das für ziemlich übertrieben, wir kennen uns doch gar nicht.
„Keine Ahnung,“ meine ich unbestimmt.
„Gut, wirst du mir trotzdem helfen?“
„Kommt drauf an womit.“
Eine absurde Situation. Mal sehen, wie das hier weitergeht.
„Ich brauche ein Versteck,“ rückt er mit der Sprache heraus.
„Der Strand von Cofete,“ grinse ich.
„Wovon soll ich da leben? Sand gehört nicht zu meinen Lieblingsspeisen. Trinkwasser gibt es da auch nicht.“
Wo will der sich denn verstecken, überlege ich.
„Ich habe an dein Hotelzimmer gedacht. Kein Mensch wird mich da suchen.“
„Wer sucht dich denn?“
Also ist er doch der gesuchte Spion.
„Mein verrückter Bruder, er will mich umbringen, um das ganze Erbe für sich allein zu behalten.“
„Welches Erbe?“
„Ein Haus in Sevilla.“
So erfahre ich langsam Pedros verkorkste Lebensgeschichte, lauter unangenehme Verwandte – und sein Wunsch nach Versteck wird plausibel.
„Bald fliege ich ja nach Berlin und fange ein neues Leben an. Wenn mir das Haus nicht mehr gehört, also dann gibt es auch keinen Grund, mich umzubringen.“
Ich schweige erst einmal.
„Bis dahin brauche ich ein sicheres Versteck in der Nacht. Tagsüber traut er sich nicht an mich ran – Security im Hotel – aber nachts könnte er zuschlagen. Ich wohne bei Spaniern hier in der Nähe, checke da einfach aus, sage, ich ziehe zu einem Kollegen und gut.“
„Warum gehst du nicht zur Polizei? Die spanische Militia soll doch gut sein.“
„Die erklären mich für verrückt, ich habe keinerlei Beweise.“
„Wo liegt jetzt der Nutzen für mich?“ frage ich.
„Ich schenke dir mein Haus in Sevilla.“
Ich bin perplex. Ein Haus in Sevilla! Da muss es einen Haken geben.
„Das gehört doch zur Hälfte deinem Bruder.“
„Nein, der hat ein anderes Haus in Toulouse geerbt.“
„Ist der raffgierig!“
„Ja, ist er.“
„Dann wird er eben mich umbringen anstatt dich. Nein, danke.“
„Wieso? Davon hat er nichts, das Haus bekämen doch deine Erben und nicht er, also hat er kein Interesse daran, dich umzubringen.“
Das leuchtet mir ein. Ich bin schon in seinem Fahrwasser, wie absurd das eigentlich ist. Solche mordlüsternen Gesellen schwirren doch eher durch Krimis, seltener durch die Realität. Aber ein Haus in Sevilla, das wär schon nett. Einen Versuch ist das allemal wert. Sevilla ist die Hauptstadt von Andalusien, google ich später. Dichter am Atlantik als am Mittelmeer. Spanien hat im Süden auch einen Zipfel Atlantikküste. Ich dachte immer, nur im Norden. `Der Barbier von Sevilla` fällt mir plötzlich der Titel einer Oper von Rossini ein. Die Handlung geht irgendwie gut aus, erinnere ich mich. Habe die Oper vor Jahren in Milano gehört und gesehen. Damals war ich noch glücklich verheiratet. Lang lang ist`s her.
Inzwischen ist es ein Uhr und wir sitzen in einer Taverne – la taberna – am Jandia Boulevard. Vor uns eine Flasche Weißwein aus Catalonien – Cataluna – Conde de Caralt, der total erfrischend mundet. Eigentlich trinke ich lieber Roten, aber hier in der Hitze schmeckt weisser wirklich besser. Außerdem ist der spanische Rotwein ziemlich „tinto“ – also schwer. Wir quatschen was das Zeug hält in einem Kauderwelsch aus Englisch, Spanisch und Deutsch. Ob aus den verschiedenen europäischen Sprachen einmal wieder etwas Einheitliches entsteht wie eine sogenannte Indogermanische Sprache, die es früher gegeben haben soll? Ich kann mich an den Inhalt unseres angeregten Geplauders kaum erinnern. Doch, jetzt blitzt etwas aus dem Vergessen auf: Er hat mir erzählt, was er in Berlin machen will, beruflich, meine ich. Es hatte nichts mit Gaststätten und Kellnerei zu tun. Was war das nochmal? Ja, er wollte studieren. Europarecht oder so was Ähnliches, glaube ich war das.
„Im Zimmer steht eine Besuchercouch. Du könntest aber auch auf der Terrasse schlafen, warm genug dazu ist es und die Liegen sind bequem.“
„Deal?“ lacht er freudig.
„Wie groß ist denn das Haus in Sevilla?“ höre ich mich fragen. Vielleicht hat es nur ein Zimmer und das Klo ist auf dem Hof.
„Ich zeig dir Bilder. 5 Zimmer, Terrasse, zwei Bäder. Eine Million € wert. Großer Garten drumherum.“
Nun, wir werden sehen, wenn der Tag lang ist, kann man viel erzählen. Der Wein steigt mir langsam zu Kopfe. Der Skorpion über mir bewegt schon seinen Stachel.
„Wann kommt denn dein Bruder hier an?“
„Ich schätze übermorgen.“
„Woher weißt du das so genau?“
„Ich habe meine Spione.“
Wir müssen beide lachen. Ich beschließe, Silvia nichts zu erzählen. Bleibt mein Geheimnis.
Zwei Tage später ertönt nachts um 23 Uhr das vereinbarte Klopfzeichen an der Tür und Pedro witscht ins Zimmer. Im Schrank ist genug Platz für seine Reisetasche und er macht es sich auf einer der Balkonliegen gemütlich. Eine dünne Zudecke hat er mit, so eine Art südländischer Schlafsack. Auch macht er keine Anstalten, mich zu verführen, eigentlich schade, so ein Abenteuer ist doch prickelnd, auch wenn ich sicher nicht bis zum Äußersten gegangen wäre. Schnarchen tut er auch nicht. Schläft sofort ein da unterm Skorpion, den ich von der anderen Liege noch eine Weile beobachte, bevor ich mich ins Bett schlafen lege.
Als ich aufwache, ist Pedro schon verschwunden. Es sind ja immer mehrere Handtücher da und er hat rücksichtsvoll einen extra Haken für seines benutzt.
Am Strand nähert sich mir ein fremder Mann mit spanischem Flair. Dabei leicht korpulent und in Badekleidung.
„Du Calypso?“
Ich stutze, verwechselt er mich jetzt mit der griechischen Sagengestalt? Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet `versteckt`oder der `Verstecker`. Calypso ist eine Meernymphe aus der griechischen Mythologie und beherbergt eine Zeit den schiffbrüchigen Odysseus auf ihrer verborgenen Insel. Vielleicht sucht der Fremde ein Versteck?
„Ich, Urlauber, nix Calypso.“
Meine Zehen spielen mit dem warmen Sand. Ich wollte mich gerade fallenlassen und träumen. Es kann faszinierend sein dem Wellenrauschen zu lauschen. Sie beleben den Strand auf schillernde Weise, klatschen einmal von vorn, dann unvermittelt von der Seite, mal länger, mal kürzer, mal überlappend, sich überstürzend – wie Musik. Anregend. Und warm, total verwöhnend für so einen Nordländer wie mich. Dann wieder die Störung.
„Du wohnen Calypso,“ zeigt er auf mein Hotel.
Ich habe keine Lust, mit ihm zu kommunizieren und blinzele zu den Safeguards rüber – im Falle eines Falles kann ich schnell hinlaufen. Obwohl – mein Gegenbüber sieht nicht gefährlich aus – eher behäbig.
„Ich habe keine Lust mit Ihnen zu reden,“ sage ich klar und deutlich.
„Ich auch nicht Lust – brauchen Information,“ sagt er mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf meinen entblößten Bauch über der knappen Bikinhose, der offensichtlich nichts zu bedeuten hat.
„Ich bin kein Informant und jetzt möchte ich Sie bitten, meine Privatsphäre zu verlassen.“ Ich drehe mich brüskiert zur Seite und zeige ihm mein Hinterteil.
Das scheint ihn nicht abzuschrecken, eher im Gegenteil.
„Ein schöner Rücken kann auch entzücken,“ sagt er plötzlich in einwandfreiem Deutsch – hat er sicher irgendwo aufgeschnappt. Ich fühle mich unbehaglich, meine ganze Stimmung ist hinüber, kann den Wellen nicht mehr lauschen, meine Träume verfliegen – alles wegen der lauernden Realität da in meinem Rücken. Also nehme ich mein Handtuch und meine Tasche und bewege mich an einen anderen Ort, weg von dem aufdringlichen Kerl. Eine Weile geht das gut, dann kommt er mir hinterher, setzt sich in Sichtweite in den Sand und spielt mit den schwarzen Vulkansteinen, die hier überall herumliegen. Der Mann macht mich total nervös und zerstört mir den Tag. Sobald ich versehentlich in seine Richtung gucke, zwinkert er mir zu. Er baut einen Turm mit den schwarzen Steinen und sitzt etwas verloren da im Sand.
Jetzt kommt Silvia und wir gehen schwimmen. Die Wellen des Atlantik haben es in sich. Eben noch liegt das Meer wie ein Spiegel da, plötzlich erhebt sich eine Welle wie aus dem Nichts und schubst einen sanft aber hartnäckig um. Ein solches Phänomen kenne ich von der Ostsee nicht. Wir schwimmen mindestens 30 Minuten vor der Küste hin und her. Rausschwimmen verkneifen wir uns lieber, wir wollen die Jungs vom Safeguard nicht unnötig in Verlegenheit bringen, falls wir in eine Strömung geraten.
„Wer ist denn der Kerl da, der da am Strand hockt hinter seinem Steinhaufen und zu uns stiert?“
„Keine Ahnung, er hat genervt, ich halte ihn auf Abstand.“
Silvia lacht dieses schelmische fröhliche Kinderlachen, das ihr eigen ist, hoffentlich stellt sie keinen Blödsinn an mit dem Mann.
Da sie nicht so abweisend reagiert wie ich, lädt sie doch der Fremde tatsächlich zum Eis essen auf den Boulevard ein und sie geht auch noch, lächelnd, mit. Nun sitze ich alleine hier und kann endlich meinen Phantasien freien Lauf lassen – aber das macht jetzt irgendwie nicht mehr so viel Spaß.
Abends am Büfett erzählt Silvia von ihrem Eisgang. Der Fremde heißt Carlos und ist der Bruder von Kellner Pedro. Ich zucke unwillkürlich zusammen.
„Was ist?“
„Nichts, nichts.“
„Sie waren verzankt und er will sich wieder mit ihm versöhnen,“ erzählt sie weiter.
Ich weiß es besser, sage aber nichts.
Nachts berichte ich die Sachlage Pedro, der sich bei mir bedankt.
„So, jetzt hat er mich entdeckt und wird diese Silvia dazu benutzen, sein Ziel zu erreichen.“
„Aber er wird doch dann zum Mörder. Man wird ihn verhaften und er sitzt den Rest seines Lebens hinter Gittern.“
„Weißt du, dass man 40% der Morde, die so passieren, nie aufklärt?“
Nein, das habe ich nicht gewusst und kann es eigentlich auch nicht ganz glauben. Ist dieser Carlos nun gefährlich oder nicht? Der Pedro wird doch nicht umsonst so vor seinem Bruder zittern, er ist doch nicht verrückt, oder?
Erstaunlich, wie wenig mich der Schlafgast stört. Er kommt und duscht sich, dann verschwindet er auf den Balkon und schläft augenblicklich ein. Ich kann ungestört lesen oder in die Sterne gucken – machen was ich will. Und morgens ist er schon weg, wenn ich aufwache.
Heute Nacht gegen ein Uhr versenke ich mich noch einmal in den Sternenhimmel – welch ein Gefunkel – leider kenne ich mich nicht so wirklich aus mit den Sternbildern, aber die Kraft des Universums überträgt sich auch so, ohne Detailkenntnisse. Es ist der helle Wahnsinn, wenn man sich vorstellt, wie schnell die Erde durch das Universum saust und trotzdem merken wir nichts davon. Ich google – ca. 30km/Sekunde, das sind etwa
107 000 km/Stunde – das ist schwer vorstellbar. Unser Sonnensystem dreht sich noch schneller um die Milchstraße – mit etwa 280 km/Sekunde. Eigentlich müsste uns permanent schwindlig sein.
Da. Das ist doch nicht möglich. Über den Hof läuft Carlos. In the darkest hour. Ich sehe ihn von hier oben ganz deutlich da unten. Er trägt ein Messer in der Hand. Ganz offen – ein längeres Schweizer Taschenmesser – aufgeklappt. Er wird doch nicht auf der Jagd nach seinem Bruder sein? Ganz offen. Er kann doch nicht mit einem Messer … wie archaisch. Aber Südländer stechen immer öfter mit dem Messer aufeinander ein. Aber doch nicht Spanier! Offensichtlich doch.
Ich muss meinem blinden Passagier Pedro davon erzählen. Also wecke ich ihn und wir flüstern unterm Sternenhimmel den Fall durch.
„Mit einem Messer? Hätte ich nicht gedacht.“
„Sondern?“
„Ehrlich gesagt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie er mich umbringen will … Aber Messer? Ich glaube nicht, dass er sich traut zuzustechen.“
„Pistole?“
„Nein, vielleicht mit einem Kissen im Schlaf ersticken, keine Ahnung.“
„Er könnte einen Fisch daneben legen, dann denken alle, der Tote sei an einer Gräte erstickt,“ witzele ich.
„Du entwickelst Fantasie.“
„Na ja, im Schlaf ersticken kann er dich hier in meinem Apartement eher nicht. Er kommt ja gar nicht hinein.“
„Außerdem weiß er ja nicht, dass ich hier drin bin, oder?“
„Natürlich nicht, woher denn!“
Am nächsten Tag flirtet Silvia ununterbrochen mit Carlos, was mir langsam Sorgen macht, soll ich sie über potentielle Gefahren aufklären? Glücklich schlendern die beiden den Boulevard entlang, ich kann es gut vom Hotelgarten aus beobachten. Wahrscheinlich ist aber nur sie eine Art von scheinglücklich, der Kerl nimmt sie doch sicher auf den Arm. Will sie nur aushorchen in Sachen Pedro. Ich frage mich, warum Carlos nicht einfach zu Pedro geht und ihn anspricht. Das spricht für seine eventuell doch bösen Absichten, sonst könnte er doch einfach auf ihn zugehen und seine angebliche Versöhnung vorantreiben.
Die Hotelleitung möchte mich sprechen. Sie haben herausbekommen, dass Pedro bei mir nächtigt und vermuten, dass er der englische Spion ist, der sich auf den Kanaren versteckt halten soll. Was spioniert er eigentlich und wer sucht ihn denn überhaupt? Darauf kann mir niemand eine Antwort geben. Ich halte mich bedeckt und fasele etwas von verliebt. Ob sie mir das abnehmen, kann ich nicht sagen. Ich soll vorsichtig sein, meinen sie.
Mir wird das jetzt zu kompliziert und ich vertraue alles Silvia an. Es ist ein heißer Tag und wir sitzen am Strand unter einem Sonnenschirm.
„Ich glaube, wenn einer ein Spion ist, dann ist es Carlos,“ meint Silvia.
„Er fragt mich laufend so komische Sachen.“
„Was denn?“
„Details nach meinem Ex-Mann.“
„?“
„Na ja, wozu will er etwas über ihn wissen?“
„Wo schläft denn der Carlos überhaupt?“
„Bei Spaniern hier in Jandia.“
Ich erzähle ihr die Sache mit dem Messer.
„Na und, vielleicht wollte er sich eine Apfelsine schälen.“
Später sehen wir, wie Carlos mit einem Fremden in ein Café auf dem Jandia Boulevard geht. Der Fremde ist groß, schlank und elegant angezogen. Seine schwarzen Haare glänzen leicht fettig. Wir beschließen, die beiden zu belauschen. Das klappt ganz gut, weil wir uns hinter einer Säule verstecken können, die uns verdeckt. Die beiden reden in flüssigem Englisch. Es geht um das Wetter und belanglose Dinge. Plötzlich zieht Carlos sein Messer, als der Mann sich kurz umdreht, um nach dem Kellner zu sehen. Uns stockt der Atem. Werden wir jetzt Zeugen eines Mordes am hellichten Tag? Ich suche entnervt nach Silvias Hand. Aber Carlos schneidet tatsächlich nur einen Apfel in kleine Stücke mit seinem Schweizer Taschenmesser. Wir sind mit unseren Nerven am Ende. Als der Fremde sich wieder Carlos zuwendet, sagt er:
„Gut, dann machen wir es also heute Nacht.“
„In Ordnung,“ meint der Bruder Pedros.
Also doch, es ist also doch etwas im Busch. Beunruhigt gehen wir ins Hotel zurück.
Sofort kläre ich Pedro auf und erzähle ihm alles. Der ist auch nervös und vermutet nichts Gutes. Wir beschließen, heute so lange wie möglich aufzubleiben und in der Hotelbar bis in die Puppen zu feiern. Mal sehen, was passiert. Da sitzen wir also zu dritt und unterhalten uns bei Martini Dry. Langsam bekomme ich einen kleinen Schwips.
Jetzt geht es los. Carlos kommt mit dem Fremden in die Hotelbar. Sie setzen sich zu uns. Pedro rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
„Wollen wir uns wieder vertragen?“ reckt Carlos ihm die Hand hin.
Zögerlich schlägt Pedro ein.
„Das Haus in Sevilla habe ich auf Charlotte überschrieben. Da kommst du nicht mehr heran,“ meint Pedro.
Charlotte, das bin ich. Ich versuche, ein möglichst unbefangenes Gesicht zu ziehen.
„Das Haus in Sevilla interessiert mich gar nicht, ich habe das Haus in Toulouse. Du bist doch mein Bruder, wollen wir uns nicht endlich wieder vertragen?“
„Ich denke, du willst mich umbringen?“
„Warum sollte ich das wollen?“
Ich traue dem Frieden nicht und vermute, dass jeden Moment etwas Furchtbares passieren kann. Auch Silvia ist auf der Hut und blickt ängstlich umher.
Der Fremde schaut interessiert von einem zum anderen und nippt an seinem Martini.
„Was wollt ihr denn heute Nacht machen?“ bricht Silvia das Schweigen. Ihre Stimme zittert. „Wir haben euch im Café belauscht, also keine Ausreden.“
Beide sind etwas überrascht und brechen dann in Gelächter aus.
„Haben Sie gedacht, wir wollen etwas Unreelles tun?“ fragt der Fremde.
„Was ich heute Nacht machen will? Ich kündige meinen Vertrag als Privatdetektiv bei ihm, eigentlich habe ich es vorhin schon getan“ sagt Carlos mit einem Blick auf den Fremden.
„Ja, ich hatte ihn beschäftigt,“ meint der, „Er sollte herausbekommen, ob meine Frau einen Liebhaber hat.“
„Wer ist Ihre Frau?“ fragt Silvia.
„Carlos hielt Sie für meine Frau, das ist aber – leider – ein Irrtum,“ meint der Fremde zu Silvia.
„Allerdings,“ Silvia ist perplex. „Wieso leider?“
„Meine Frau ist hier irgendwo auf den kanarischen Inseln, ich muss sie nun wohl selber suchen,“ lächelt der Fremde aufseufzend, ohne auf Silvias Frage einzugehen.
„Und wer ist nun der Spion von euch beiden?“ frage ich.
Die Brüder gucken sich belustigt an.
„Spion? Nun, ein Privatdetektiv ist ja nicht wirklich ein Spion, obwohl – nun, er soll auch spionieren können, das wird schon erwartet,“ lacht Carlos.
„Wir sind keine Spione, mein Bruder und ich,“ lächelt Pedro.
„Darf ich jetzt eigentlich das Haus in Sevilla behalten?“ frage ich.
Darauf bekomme ich zunächst keine Antwort.

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